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Das Lernprotokoll

Ein kleines, aber effizientes Tool für differenzierendes Lehren

In seinem persönlichen Lernprotokoll notieren die Teilnehmenden ihre Lernerfahrungen im Laufe eines Seminars. So wird der Transfer schon von Beginn an mitgedacht. Gleichzeitig kann ich als Trainerin das Lernen individueller gestalten und den unterschiedlichen Lernzielen gerecht werden.


„Erfunden“ habe ich das Lernprotokoll schon in meinen ersten Jahren als Trainerin, und zwar bei den Rhetorik-Seminaren, für die ich bei meinem damaligen Arbeitgeber zuständig war. Der Teilnehmerkreis war meist heterogen, und so waren auch die Lernwünsche. Der eine Teilnehmer wollte lernen, frei zu sprechen, die andere Teilnehmerin, ihr Sprechtempo zu drosseln. Mehr Betonung statt monotonem Singsang war ein weiteres Lernziel. Die Angst vor Stottern zu besiegen oder die Almlaute „Äh“ und „Hmm“ vermeiden wollten wieder andere Teilnehmende. Auch eine gute Gliederung, einen fesselnden roten Faden oder mehr Überzeugungskraft beim Vortrag waren Lernziele.

Alle diese Themen kamen durchaus im Seminar dran, wurden besprochen und geübt – allerdings nur jeweils eine begrenzte Zeit. Davor und danach waren die Teilnehmenden unterfordert. Zum Glück für mich als Trainerin konnten sie damals noch nicht auf ihren Handys spielen, weil es die noch nicht gab!

Aber ich war unzufrieden mit der schlecht genutzten Lernzeit. Wie könnten die Teilnehmenden dazu gebracht werden, das gesamte Seminar als ihre persönliche Lern- und Übungszeit zu betrachten?

Binnendifferenzierung

Lernen in einer Gruppe, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Das ist heute eine Aufgabe für jede Lehrperson an der Schule, und das versuche ich in Seminaren unter anderem mithilfe des Lernprotokolls.

Ziemlich leere Seiten...

Das Lernprotokoll ist ein Formular von drei bis fünf Seiten, das von jedem Teilnehmenden im Laufe der Seminartage mit persönlichen Notizen gefüllt wird.

2 Beispielseiten eines Lernprotokolls
Lernprotokoll (c) Sabine Neugebauer, 2023

Zum Einstieg werden die persönlichen Lernziele konkretisiert, die dann bei jeder Übung als Maßstab dienen. Für jede Übungssituation gibt es ein leeres Kästchen, in dem Übungsschwerpunkt, Feedback und Verbesserungsvorschläge eingetragen werden. So füllt sich das Lernprotokoll mit allem, was an Erfahrungen und Erkenntnissen genau zum eigenen Lernziel relevant war.

Individuelle Lernziele bilden

Am Anfang steht eine persönliche Bestandsaufnahme und Festlegung: Worauf kommt es mir in diesem Seminar an? Was will ich ausprobieren und entwickeln?

Nehmen wir als Beispiel zwei typische Führungskräfte in einem Führungsseminar.

Frau Wissmann hatte sich mit dem eher vagen Wunsch angemeldet, ihre Akzeptanz als Teamleitung zu verbessern. Das war mir zu ungenau. Was genau müsste sie anders machen oder neu dazulernen, damit ihr Team sie mehr akzeptierte?

Verhaltensnahe Ziele

In einer Kleingruppe berieten die Teilnehmenden miteinander, wie sie ihre Ziele konkretisieren könnten. Frau Wissmann kam zu dem Ergebnis, dass ihr Team sie durchaus mochte, weil sie so mitarbeiterorientiert, ja weich agierte. Aber vor den klassischen Vorgesetztenaufgaben schreckte sie oftmals zurück und gab nach. Sie konkretisierte ihre Ziele:

  • Klarer Anforderungen stellen
  • keine Rückdelegation von zumutbaren Aufgaben zulassen

Commitment

Lernen ist etwas Aktives, das muss man wollen und tun. Einfach im Seminar zugucken und warten, ob einem etwas Interessantes und Brauchbares auffällt, das ist zu wenig. Auch da beugt das Lernprotokoll vor.

Herr Hürtgen war von seinem Bereichsleiter geschickt worden. Das gab er auch direkt zu. Eigene Lernziele hatte er nicht. Noch nicht. Was störte denn seinen Bereichsleiter, dass er ihn zum Seminar verdonnert hatte? Herr Hürtgen berichtete offen, dass dieser ihn zu streng fand und mehr Mitarbeiterorientierung verlangte.

Hier geht es nicht um Konkretisierung, sondern darum, dass Herr Hürtgen überhaupt Lernziele erarbeitete, die für ihn erstrebenswert sind.

In der Beratungsgruppe wurde hinterfragt, was er von seinem bisherigen Führungsstil unbedingt behalten wolle, und welche Aspekte von Mitarbeiterorientierung vielleicht dennoch von Vorteil sein könnten. Er setzte sich dann diese Schwerpunkte:

  • meine Mitarbeitenden besser verstehen
  • durch Fragen mehr Eigenaktivitäten bei den Mitarbeitenden erzielen

Ein persönlicher Kompass

Bei jedem Seminarthema werden die Teilnehmenden angehalten, ihre Lernziele daraufhin anzuschauen: Worauf muss ich hier achten, damit ich auf meinem Lernweg weiterkomme? Die Übungen und Beratungen laufen dann genau zu ihren Zielen ab.

Im Führungsseminar war das Kritikgespräch dran. Worauf muss Frau Wissmann achten? Sie hatte sich vorgenommen, die Kritik klar und deutlich auszusprechen, nicht umzufallen und vom (Rollenspiel-)Mitarbeiter eine Veränderung zu fordern. Dies erklärte sie vor der Übung, so dass die Gruppe genau darauf achten konnte.

Für Herrn Hürtgen wären das keine sinnvollen Ziele, denn das könnte er natürlich aus dem Ärmel schütteln! Bei ihm ging es ganz anders darum, dass der (Rollenspiel-)Mitarbeiter auch zu Wort kam und er dessen Sichtweise nicht gleich abwertete, sondern zu verstehen suchte. Überdies wollte er nicht, wie gewohnt, die Problemlösung vorgeben, sondern über Fragen dazu anregen, sich selbst Gedanken zu machen.

Das gleiche fachliche Thema „Kritikgespräch“ hat so für die Teilnehmenden durchaus verschiedene Lernanforderungen. Jede Person wird an dem Maßstab gemessen, den sie für sich erarbeitet hat.

Mehr Relevanz

Die Teilnehmenden erhalten natürlich Handouts zu den fachlichen Themen. Das Lernprotokoll, das sich von Übung zu Übung mit Notizen zu den eigenen Lernerfahrungen füllt, fasst das Lernen jedoch noch deutlich relevanter zusammen. Es ist wie ein roter Faden, der einem aufzeigt, wo man wie weiterkommt, und wo es noch hakt.

Aha-Erlebnisse

Als das Kontrollgespräch geübt wurde, brach Frau Wissmann die Übung ab. Ihre (Rollenspiel-)Mitarbeiterin hatte sie bewusst unsachlich attackiert, in etwa so: „Was spielen Sie hier den Kontrolletti?!“. In der Praxis, erzählte Frau Wissmann, würde sie spätestens hier aufgeben und auf die Kontrolle verzichten. Wir betrachteten ihre Lernziele. Was hinderte sie, auch hier klare Anforderungen zu stellen? Eine Seminarkollegin gab das Feedback, dass ihre Körpersprache auch zunehmend ängstlich gewirkt hätte und ihre Stimme leise und mädchenhaft. Frau Wissmann erinnerte sich daraufhin, dass sie in ihrer Kindheit nie ermutigt worden war, etwas durchzusetzen. Im Gegenteil: „Mädchen, die was wollen, kriegen was auf die Bollen!“.

„Hey, du brauchst einen Erlauber!“, rief die Kollegin aus. Ich gab ihr ein Kärtchen, und sie schrieb darauf mit dickem Filzer: „Du darfst Führungskraft!“. Ich regte eine Rollentauschübung an, in der Frau Wissmann in der Rolle der Mitarbeiterin erleben konnte, dass es durchaus akzeptabel ist, von der Vorgesetzten kontrolliert zu werden. Sie verstand, dass ihr Zurückweichen vorher einige irrationale Aspekte hatte, und probierte die Übung ein zweites Mal.

Weiterlernen nach dem Seminar

Mit jeder weiteren Übung wird es für die Teilnehmenden zum festen Ritus, diese Lernschleife zu durchlaufen:

  • Worauf kommt es hier in Anbetracht meiner Ziele an?
  • Wo muss ich aufpassen, nicht in alte Muster zu verfallen?
  • Nach der Situation reflektieren: Was ist gelungen und was muss noch verändert werden?

Auch nach dem Seminar kann das bei wichtigen Führungsgesprächen beibehalten werden. So haben die Teilnehmenden für sich eine Qualitätssicherungsroutine installiert, die eine selbstgesteuerte Verbesserung ermöglicht.



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