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Situative Führung

Händedruck und Kompetenzfaktoren

 

 

Leider ist „Situative Führung“ eine sehr missverständliche Übersetzung des amerikanischen „Situational Leadership“. Was stellt man sich denn unter situativem Verhalten vor? Ein flexibles Vorgehen, spontan aus der Situation geboren. Von Moment zu Moment variabel.

 

Doch gerade das ist hier nicht gemeint.


"Situation" (engl.) heißt auch "Lage" oder "Zustand"

Das englische „situation“ heißt nämlich nicht nur Situation, sondern auch Lage oder Zustand. Das trifft die Bedeutung von Situativer Führung viel besser. Führung soll sich an die Lage des Mitarbeiters anpassen. Heute hört sich das selbstverständlich an. Aber wie sah die Führungslehre damals aus? Führungsforscher hatten jahrzehntelang daran gearbeitet, den besten Führungsstil herauszufinden. Wohlgemerkt: einen besten Führungsstil für alle Mitarbeiter! Das Modell, das Hersey & Blanchard 1977 veröffentlichten, stellte somit eine kleine Revolution dar.

Radikale Abkehr vom "One best way"

Hersey & Blanchard widersprachen der Vorstellung, dass es einen idealen Führungsstil geben könne, der alle Mitarbeitenden optimal zu Leistung und Zufriedenheit bringen würde. Sie postulierten, dass Führungsverhalten sich auf den Mitarbeiter einstellen müsse, um gut zu wirken. In der Praxis heißt das, unterschiedliche Teammitglieder auch jeweils differenziert zu führen.

Woraus ergibt sich der passende Führungsstil?

Der hängt laut Hersey & Blanchard von der Kompetenz und der Motivation des Beschäftigten ab. Je mehr diese ausgeprägt sind, desto weiter soll die Führung sein.

  • Hoch kompetente Mitarbeiter sind z. B. langjährige Fachkräfte oder hochkarätige Spezialisten.

Sie arbeiten am besten, wenn die Führungskraft ihnen vertraut, sich aus Fachdetails heraushält und sie in unternehmerische Fragestellungen einbezieht.

  • Wenig kompetente Mitarbeiter sind z. B. Anfänger oder die „Sorgenkinder“ des Teams.

Sollte der Vorgesetzte hier vertrauen und sie machen lassen? Um Gottes willen! Solche Mitarbeiter brauchen fachliche Anleitung und kurz getaktete Kontrollen. Gerade auch in ihrem eigenen Interesse, um sie vor den Folgen von Fehlern zu bewahren.

  • Im mittleren Kompetenzbereich werden sich die meisten Teammitglieder finden. Sie sind gut eingearbeitet, aber haben alle ihre Stärken und Schwachpunkte.

Sie profitieren von einer mitarbeiterorientierten Führung mit vielen Gesprächen. So kann die Führungskraft individuell auf ihre Fragen und Unsicherheiten eingehen, aber auch gezielt Verantwortung und Entscheidungsfreiraum delegieren.

Kompetenz und Motivation

Kompetenz umfasst dabei das Fachwissen, aber auch Fähigkeiten und Fertigkeiten, das Wissen anzuwenden. Motivation beinhaltet den Antrieb zur Arbeit, das Engagement, aber auch die richtige Arbeitseinstellung. Wenn Kompetenz und Motivation nicht übereinstimmen, dann ist der Engpassfaktor entscheidend:

  • Ein hochmotivierter Mitarbeiter, dem aber die Kompetenz fehlt, kann mit Begeisterung Fehler machen. Deshalb braucht er die enge Aufsicht, die seiner geringen Kompetenz entspricht, auch wenn er das lästig finden wird.
  • Ein kompetenter Mitarbeiter wiederum, der unmotiviert ist, wird die PS nicht auf die Straße bringen. Leider kann auch er nicht weit geführt werden, sondern braucht eine enge Begleitung, zumindest solange, bis er sich vielleicht doch zu etwas mehr Engagement aufraffen kann.

Ein Praxisbeispiel: Gar nicht so einfach mit den Neuen

Frau Rückert leitet schon seit einigen Jahren ein Team von Personalberatern in einem Personalservice-Unternehmen. Ihre Mitarbeiter sind routiniert und motiviert, deshalb ist ihr kooperativer Führungsstil angemessen und er wird auch gut angenommen. Die Teammitglieder honorieren es, dass sie sich mit Fragen an Frau Rückert wenden können, aber sie schätzen es auch, wenn sie im Tagesgeschäft selbstständig agieren können und in Entscheidungen mit einbezogen werden. Jeder hat zugeordnete Kundenunternehmen, um die er oder sie sich eigenständig kümmert. Von der Beratung zum Employer Branding über die Gestaltung von Personalanzeigen bis zur Auswahl von Recruitingkanälen kommt ein interessantes Aufgabengebiet zusammen, wobei man sich im Team gerne austauscht und Best Practices weitergibt.

Da der Markt boomt, kommen zwei neue Mitarbeiter dazu. Frau Hegemann hat schon im Personalservice gearbeitet, allerdings nicht in so einem umfangreichen Aufgabengebiet. Herr Koslow kommt als Quereinsteiger aus der öffentlichen Verwaltung. Für den Anfang hatte Frau Rückert einen Einarbeitungsplan erstellt, was auch gut funktionierte. Aber nach nur wenigen Wochen entwickeln sich die Neuen völlig anders.

Frau Hegemann, die ja eigentlich die Grundlagen der Arbeit kennen müsste, stellt keine große Hilfe für die Kollegen dar. Obwohl sie eigentlich alle Freiheiten hat, arbeitet sie immer noch unselbstständig, greift von sich aus keine neuen Aufgaben auf und wartet bei jeder fälligen Entscheidung auf die Zustimmung der Chefin.

Herr Koslow hat die Erwartungen dagegen übertroffen. Nachdem der Einarbeitungsplan so gut funktionierte, hat er mit Frau Rückert einen weiteren Plan vereinbart, wonach er sich systematisch ein Aufgabengebiet nach dem anderen erarbeitet. Das haben sie auch im Teammeeting vorgestellt, so dass alle Kollegen wissen, wo sich der Neue schon auskennt und wo nicht. So können sie zielgerichtet Aufgaben an ihn abgeben. Letzte Woche hat er z. B. eine Facebook-Kampagne für einen Kunden konzipiert. Er ist hochzufrieden, dass er schon so einiges - wenn auch unter Aufsicht - hinkriegt.

Eine Fehlbesetzung? Oder ein Führungsfehler?

Nun könnte man meinen, Frau Hegemann ist einfach nicht talentiert. Aber das kann noch gar nicht beurteilt werden! Frau Rückert ist nach einem engen Führungsstil (Einarbeitungsplan) in einen ganz weiten gewechselt, so als ob Frau Hegemann eine langjährige Expertin wäre. Das ist sie aber nicht. Es ist eine typische Reaktion, dass die Mitarbeiterin sich dann überfordert fühlt, übervorsichtig agiert und dauernd absichert.

Was wäre hier angemessen? Frau Hegemann braucht noch deutlich mehr Anleitung und Begleitung. Im mittleren Kompetenzbereich helfen ihr regelmäßige Gespräche, wo die Führungskraft ihr Rückmeldung gibt, ihre Eigenständigkeit stärkt und Fehler korrigiert. Dadurch bekäme Frau Hegemann die nötige Sicherheit, damit sie immer mehr Aufgaben selbstständig angehen und ihre Fähigkeiten realistisch einschätzen kann.

Bei Herrn Koslow hat Frau Rückert glücklicherweise ein richtiges Händchen gehabt. Die enge Führung wurde nur ein wenig erweitert, es gibt weiterhin gemeinsam geplante Lernschritte - und genau mit einem solchen "Geländer" entwickelt sich der Quereinsteiger gut weiter. Je besser er wird, desto mehr kann sich die Chefin zurückziehen. Aber Stück für Stück, nicht plötzlich und komplett.

Differenzierte Führung ist machbar

Mit nur wenigen Überlegungen bietet das Modell der Situativen Führung ein Gerüst, um das eigene Führungshandeln zu überprüfen: Gebe ich meinen guten Mitarbeitern genügend Freiraum und Verantwortung? Begleite ich die weniger guten ausreichend nah, damit sie Schritt für Schritt Sicherheit gewinnen? Führungsqualität lohnt sich, und sie lässt sich lernen!


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